Was ist daran, an der Nötigung?

Was ist daran an den Vorwürfen?
Die Antwort ist einfach: Nichts.
Das gilt sowieso für den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung. In vielen Medien und Pressestatements war trotzdem davon zu lesen. Selbst einige A49-Gegner*innen hatten sich bei vorhergehenden Aktionen davon distanziert. Doch Staatsanwaltschaft und Gericht in Frankfurt, wo die Haftbefehle zusammengezimmert wurden, erhoben diesen Vorwurf gar nicht. Er war also frei erfunden – zwecks Propaganda oder aus emotionaler Überforderung. Damit ist nebenbei auch geklärt, dass die ständige Formulierung in Medien und Äußerungen von Politiker*innen, die Aktivistis hätten den Stau (und dann eventuell Unfälle) verursacht, immer eine Lüge war. Nein: Mit der Aktion an den Autobahnbrücken haben die beteiligten Personen nie in den Straßenraum eingewirkt.
Schon einige Tage vorher hatte die Staatsanwaltschaft Gießen nach der sehr ähnlichen Aktion am 6.10. in Reiskirchen (ebenfalls über der A5) diese Einschätzung gegenüber Medien kundgetan – aber ging noch einen Schritt weiter: Die Aktion stelle gar keine Straftat dar, gab die Anklagebehörde bekannt und nahm gar keine Ermittlungen auf.
Damit negierte die Staatsanwaltschaft Gießen auch den Tatbestand der Nötigung, der in Frankfurt bejaht und zur Grundlage der Inhaftierungen wurde. Was ist an diesem Vorwurf dran? Zusammengefasst: Auch nichts. Die Inhaftierung wegen Nötigung ist frei konstruiert und stellt deshalb selbst einen Straftatbestand dar, nämlich Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung. Aber der Reihe nach …
Der Haftbefehl für die gefangenen Aktivistis enthält den einleitenden Satz: „Gegen XXX wird die Untersuchungshaft angeordnet. Der/die Beschuldigte ist dringend verdächtig, am 26.10.2020 in XXX gemeinschaftlich handelnd Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt zu haben.“
Da hängen also Menschen an einer Brücke über einer Straße – ob Autobahn oder Dorfstraße, ist sowohl verkehrs- als auch versammlungsrechtlich egal. Zwischen ihnen sind Transparente gespannt. Schon auf den ersten Blick ergibt sich das typische Bild einer politischen Protestkundgebung. In Folge der Befestigung an einem Seil und der mehr oder weniger bequemen Sitzhaltung bewegen sich die Aktivistis kaum – höchstens ein kleines Baumeln im Wind oder bei Bewegungen, um das Transpi neu auszurichten. Von Gewalt keine Spur. Kein Mensch wird angegriffen, kein Mensch bedroht. Das fällt also weg. Bleibt die „Drohung mit empfindlichen Übel“. Die Menschen an den Kletterseilen sprechen mit keinen anderen Personen. Wie können sie drohen? Und das soll das empfindliche Übel sein? Haben sie zu der Polizei gerufen: „Wenn Ihr den Verkehr nicht stoppt, lassen wir uns fallen?“ Oder etwas Ähnliches? Fehlanzeige. Nichts dergleichen passiert und wird von Staatsanwaltschaft und Gericht auch nicht behauptet.
Trotzdem folgt im Text: „Wie von den Beschuldigten fest einkalkuliert und gewünscht musste die zeitnah alarmierter Polizei sodann zur Abwehr erheblicher Gefahren für Leib und Leben sowohl der Teilnehmer des Straßenverkehrs als auch der Beschuldigten sowie der beteiligten Rettungskräfte die Fahrbahn vollständig sperren.“ (Fehler im Original) Wieder kommen Fragen auf: Wieso „musste“? Wer hat die Polizei auf welche Art gezwungen? Und welche „Gefahren für Leib und Leben“ sollen für die benannten Personengruppen durch ein Transparent und einige diese festhaltenden Personen weit oberhalb der Normhöhe einer Autobahn und noch weiter entfernt selbst vom höchsten LKW ausgegangen sein? Der Haftbefehl schweigt sich dazu aus, aus gutem Grund. Die Gefahren sind erfunden – vorgeschoben, um an Menschen, die für eine Verkehrswende kämpfen, ein Exempel statuieren zu können. Zur Abschreckung.
Die ganze Sache ist also völlig frei erfunden. Doch selbst wenn von den Menschen am Kletterseil eine direkte Wirkung ausgegangen wäre, zum Beispiel in dem sie tatsächlich bis in den formalen Straßenraum heruntergeklettert wären (was nicht der Fall) war – eine Straftat wäre es immer noch nicht. Denn:
• Das Ganze war eindeutig eine nach außen gerichtete Meinungskundgabe von mehr als einer Person – mehr Kriterien kennt das Versammlungsrecht nicht. Wo aber eine Versammlung ist, gilt die Straßenverkehrsordnung nicht, kann also auch nicht herangezogen werden. Die Regelung, dass Fußgänger*innen eine Autobahn nicht betreten dürfen, wäre also gar nicht anwendbar. Nur nochmal: Das spielt hier keine Rolle, weil niemensch die Autobahn betreten hat bei dieser Aktion. Die Autobahn endet formal in der Höhe von 4,70m. Alle Beteiligten blieben über dieser Höhe.
• Der Nötigungsparagraph sieht noch ein weiteres, interessantes Tatbestandsmerkmal vor. Schauen wir mal ins Gesetz, in den § 240 StGB. Da gibt es nämlich noch den Absatz 2, der im Haftbefehl schlicht verschwiegen wird: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Die Aktivistis setzten sich, den Spruchbändern nach zu urteilen, für Klimaschutz, eine Verkehrswende und ein Ende von 1053 Verletzten und 9 Toten pro Tag im Straßenverkehr ein. Was daran ist verwerflich? Das Gericht lässt sich dazu nicht aus. Wahrscheinlich hatte es keine passende Antwort parat.
• Das Bundesverfassungsgericht hatte schon vor Jahrzehnten entschieden, dass Gewalt, wie der Begriff im Nötigungsparagraph gemeint sei, nicht sei, was „nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss“ beruhe. Niemensch wirft den Aktivistis Gewalt vor. Folglich bleibt kein Raum für die Behauptung einer Nötigung.
Jeder einzelne der drei benannten Punkte würde reichen, die Nötigung zu verneinen – so wie es die Staatsanwaltschaft Gießen auch gemacht hatte nach der Aktion am 6.10. Doch die Frankfurter Justiz missachtete gleich alle drei Punkte. Dass das kein Zufall ist, sondern hier politische Justiz am Werke war, zeigt der abschließende Absatz im Haftbefehl. Denn die Untersuchungshaft basiert zwar auf dem rechtsbeugerisch konstruierten Nötigungsvorwurf, aber er wird mit behaupteter Fluchtgefahr gekoppelt, da die Nicht-Straftäter*innen ihre Namen nicht angaben. Des Haftbefehls vorletzter Satz enthält etliche Mutmaßungen, gespickt mit deutlicher ideologischer Ablehnung der vermuteten politischen Ziele der Aktivistis: „Im Falle einer Freilassung steht zu erwarten, dass die Beschuldigte entweder in der Anonymität eines illegalen Zeltlagers im Bereich des Dannenröder Forsts untertaucht oder sonst für das Strafverfahren mangels Identifizierung nicht zur Verfügung stehen wird.“
Mensch beachtet auch hier die Wortwahl: „Illegale Zeltlager“ – die vorhandenen Lager am Danni sind, nach zähem Kampf mit versammlungsfeindlichen Behörden, vollständig legal. Dafür war die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nötig. Offenbar passt deren Wächterschaft über die Grundrechte der Frankfurter Justiz nicht in den Kram. Auch das „untertaucht“ deutet weniger eine juristische Betrachtung als politische Meinung an. Die überrascht nicht. Die Behörden, die viele Versammlungen verboten haben, gehören zur Landesregierung Hessen. Polizei und Justiz sind Teil derselben Landesregierung. Und wer baut die Autobahn A49? Die Landesregierung Hessen …
In Frankfurt auf dem Römer steht die Figur der Justitia mit Schwert, Waage, aber hier mal ohne Augenbinde. Wir wissen jetzt, warum. In Frankfurt wird nicht neutral entschieden. Hier wird politisch geurteilt – also ohne Augenbinde. Das Denkmal passt.

Drei Aktivistis der Aktionsgruppe vom 6.10.2020 haben in einem Video ihre Beweggründe, Vorgehensweise und die rechtlichen Hintergründe dargestellt. Ihr findet es unter https://youtu.be/7-vAZu1T2k4. Auch ein „Hirnstupser“ thematisiert das: https://youtu.be/dvRyQGBFBIM.

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